Das Ljubljana-Manifest: Unsere Gesellschaft braucht Lesekompetenz!

Wie wir das wichtigste Instrument unseres analytischen und strategischen Denkens schützen können: Das Ljubljana-Manifest zur Bedeutung fortgeschrittener Lesekompetenz.

Von Miha Kovac, Anne Mangen, André Schüller-Zwierlein, Adriaan van der Weel

Unterstützt durch: International Publishers Association / Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung / Federation of European Publishers / PEN International / International Federation of Library Associations / EURead (Zusammenschluss der europäischen Leseförderungs-Organisationen) / The International Board on Books for Young People (IBBY) / Slovenian Book Agency

Intensives Lesen ist unser wichtigstes Instrument bei der Entwicklung analytischen und kritischen Denkens. Es trainiert metakognitive Fähigkeiten und kognitive Ausdauer, erweitert unsere konzeptuellen Kapazitäten, fördert Empathie und Perspektivdenken – soziale Fähigkeiten, die für informierte Bürger*innen in einer demokratischen Gesellschaft unverzichtbar sind. Die Unterzeichner*innen dieses Manifests rufen dazu auf, die dauerhafte Bedeutung intensiven Lesens und der damit verbundenen fortgeschrittenen Lesekompetenzen im digitalen Zeitalter anzuerkennen und deren Vermittlung zu fördern.

Wie man dem Verfall dieser Lesekompetenzen entgegensteuert, ist eine der dringendsten Herausforderungen, denen unsere Gesellschaft gegenübersteht. Um uns als informierte Bürger*innen aktiv an einer demokratischen Gesellschaft zu beteiligen, benötigen wir fortgeschrittene Lesekompetenzen und intensive Lesepraktiken, die weit über das reine Entziffern von Texten hinausgehen. Lesen bildet nicht nur eine wichtige Grundlage persönlicher Entwicklung, ist nicht nur die Basis unseres Informationsaustauschs und des lebenslangen Lernens, sondern erschließt eine zentrale Dimension sozialer Interaktion und Partizipation.

Das Internetzeitalter macht enorme Mengen audio-visueller und textueller Inhalte auf Knopfdruck verfügbar. Die digitale Revolution hat viele positive Entwicklungen bewirkt: So sind textuelle Inhalte in bislang unterversorgten Regionen einfacher zugänglich, und die Bedürfnisse von Leser*innen mit verschiedenen Einschränkungen können besser abgedeckt werden. Wir müssen jedoch dafür sorgen, dass bestimmte Lesekompetenzen und Formen des Lesens nicht als Relikte eines verschwindenden analogen Zeitalters gesehen werden. Dies betrifft insbesondere die Langform des Buches und das intensive Lesen, das es befördert. Der digitale Raum mag mehr Lesestoff als jemals zuvor bieten, er verführt jedoch vielfach zu oberflächlichen und fragmentarischen Leseprozessen – letztlich oft genug auch zum Nichtlesen. Dies gefährdet zunehmend das intensive Lesen und die damit verbundene Ausbildung fortgeschrittener Lesekompetenzen.

Wir rufen daher dazu auf, die Bedeutung des intensiven Lesens und der damit verbundenen fortgeschrittenen Lesekompetenzen im digitalen Zeitalter neu zu bewerten. In einer immer komplexer werdenden Informationsumgebung müssen informierte Bürger*innen in der Lage sein, zwischen validen und nicht-validen Informationsquellen zu unterscheiden und ihr Leseverhalten flexibel an unterschiedliche Kontexte anzupassen. Intensives Lesen trainiert Aufmerksamkeit und kognitive Ausdauer, erweitert das Vokabular, fördert die Entwicklung konzeptueller Kapazitäten und hinterfragt Vorurteile. Insbesondere die Lektüre von Langformtexten wie Büchern schärft unsere Wahrnehmung und entwickelt unsere Lesekompetenzen. Durch intensive Lektüre werden wir trainiert, verschiedene Interpretationen auszuprobieren, Widersprüche, Vorurteile und logische Fehler aufzuspüren und die komplexen und fragilen Verbindungen zwischen Texten und kulturellen Hintergründen zu entdecken, die für den Austausch von menschlichen Urteilen und Empfindungen unabdingbar sind.

Intensives, kritisches Lesen ist das wichtigste Instrument analytischen und strategischen Denkens. Ohne es sind wir nicht ausreichend in der Lage, populistischen Vereinfachungen, Verschwörungstheorien und Desinformation zu begegnen, und sind dementsprechend anfällig für Manipulationen. Bildungsinstitutionen konzentrieren sich jedoch derzeit zunehmend auf multimodale Medien – auf Kosten der intensiven Auseinandersetzung mit textbasierter Information. Zudem führt das verbreitete Effizienzdenken vielfach dazu, dass die Komplexität des Lesens als Problem angesehen wird, das durch Vereinfachung zu lösen sei, anstatt diese Komplexität als notwendiges Spiegelbild menschlicher Komplexität zu verstehen und das komplexe, intensive Lesen als Aktivität, die das analytische und strategische Denken befördert. Schließlich konzentrieren sich Vermittlung und Messung von Lesekompetenzen derzeit zu stark auf grundlegende funktionale und informationelle Fähigkeiten und vernachlässigen so die lebenslange Bedeutung intensiver Lesepraktiken und der damit verbundenen fortgeschrittenen Lesekompetenz für das kritische Denken – das die Grundbedingung einer funktionierenden Demokratie ist.

Wir rufen daher die in Vermittlung, Förderung, Messung und Erforschung von Lesekompetenzen und -praktiken eingebundenen Akteur*innen dazu auf, die lebens- und gesellschaftsformende Bedeutung des intensiven Lesens und der damit verbundenen fortgeschrittenen Lesekompetenzen anzuerkennen und verstärkt in den Fokus zu nehmen. Leseerziehung und -förderung sollten über die Vermittlung grundlegender funktionaler und informationeller Fähigkeiten hinausgehen und sich auf den lebenslangen Entwicklungsprozess konzentrieren, der durch intensives Lesen und fortgeschrittene Lesekompetenzen ermöglicht wird. Die Messung von Lesekompetenzen sollte über standardisierte Tests hinausgehen und qualitative sowie deskriptive Daten in ihre Bewertungen mit einbeziehen, um eine detaillierte Diagnose des Stands der fortgeschrittenen Lesekompetenzen in unseren Gesellschaften erstellen zu können. Die Leseforschung sollte ihren Fokus erweitern, indem sie Erkenntnisse aus Disziplinen wie der Informationsverhaltensforschung, der Aufmerksamkeitsforschung, der Neurowissenschaft, dem Mediendesign sowie aus der Vermittlung von Informationskompetenz mit einbezieht, und ein systematisches Forschungsprogramm entwickeln, das unterschiedliche Perspektiven zusammenführt und der Fragmentation von Forschungsergebnissen entgegenwirkt.

Die Zukunft des Lesens beeinflusst die Zukunft unserer Gesellschaften. Eine demokratische Gesellschaft, die auf einem informierten Konsens vielfältiger betroffener und interessierter Bürger*innen basiert, kann nur durch resiliente Leser*innen mit fortgeschrittenen Lesekompetenzen erfolgreich sein und bleiben. Politisch Gestaltende in allen Bereichen sollten sich dieser Tatsache bewusst sein. Denn, wie Margaret Atwood gewarnt hat: “Wenn es keine jungen Leser*innen und Schreiber*innen mehr gibt, wird es bald auch keine älteren mehr geben.
Die Schriftkultur wird tot sein, und die Demokratie … ebenso”.

Weitere Details finden Sie unter https://doi.org/10.5210/fm.v27i5.12770

Der Text (deutsch): https://readingmanifesto.org/?lang=de#
Text (engl.): https://firstmonday.org/ojs/index.php/fm/article/view/12770
PDF (engl.): https://firstmonday.org/ojs/index.php/fm/article/view/12770/11081
Beitrag in der FAZ): Das Ljubljana-Manifest: Unsere Gesellschaft braucht Lesekompetenz!

Das Manifest unterschreiben: https://readingmanifesto.org/#fau

Englisch:

Why higher-level reading is important

André Schüller-Zwierlein Regensburg University; Anne Mangen University of Stavanger, Norway; Miha Kovač University of Ljubljana; Adriaan van der Weel University of Leiden

Societies are facing fundamental transformations as digital technologies are changing the ways we live,interact, work, study and read. The social and cultural impact of the digitization process on reading skillsand practices remains under-researched. While digital technologies offer much potential for new forms ofreading, recent empirical research shows that the digital environment is having a negative impact onreading, in particular on long-form reading and reading comprehension. It also remains unclear whether thetransition to digital media actually lives up to its promise of improving learning outcomes. Recent studies ofvarious kinds indicate a decline of crucial higher-level reading competencies and practices, such as criticaland conscious reading, slow reading, non-strategic reading and long-form reading. Current educationalpolicy, meanwhile, relies heavily on monocultural standardized testing of basic reading capabilities and ongrowing use of digital technologies. Reading education, assessment, research and policy-making shouldfocus more on higher-level reading practices in both adults and children in order to understand thedevelopment of reading skills and practices in an age increasingly dependent on a ubiquitous digitalinfrastructure.

Link First Monday: https://doi.org/10.5210/fm.v27i5.12770